Cyrano de Bergerac - Staaten und Reiche des MondesCyrano de Bergerac
aus: Staaten und Reiche des Mondes

Er hatte mir noch mehr darüber erzählt, wenn man uns nicht zu Tisch gebeten hatte. Mein Führer brachte mich in einen sehr schön eingerichteten Saal, wo ich jedoch keinerlei Vorbereitung zum Speisen entdecken konnte. Eine so völlige Abwesenheit jeglichen Fleisches, während ich vor Hunger verging, veranlasste mich zu fragen, wo gedeckt sei. Auf seine Antwort hörte ich aber gar nicht mehr, weil drei oder vier Knaben, Söhne des Wirtes, im selben Augenblick an mich herantraten und mich mit viel Höflichkeit bis aufs Hemd auszogen. Diese neue Art von Feierlichkeit setzte mich so in Erstaunen, dass ich meine schönen Kammerdiener nicht einmal nach dem Grund dafür zu fragen wagte, und ich weiss nicht, wie ich meinem Führer,der fragte, womit ich beginnen wolle, die beiden Worte: »Eine Suppe« zu antworten vermochte. Sofort empfand ich den Geruch der kräftigsten Brühe.die mir jemals vor die Nase gekommen ist: ich wollte von meinem Platze aufstehen, um mit dem Nasenloch den Ursprung des lieblichen Dampfes zu sehen, mein Träger hielt mich aber ab: »Wo willst du hin?« sagte er, »wir gehen gleich nachher spazieren, jetzt ist Essenszeit. Iss deine Suppe fertig, dann lassen wir was anderes kommen.«

»Wo zum Teufel ist die Suppe?" rief ich sehr zornig, »haben Sie vielleicht gewettet, dass Sie alle heute Ihren Scherz mit mir treiben wollen?«

»lch dachte«, erwiderte er, »du hättest in der Stadt, aus der wir kommen, deinen Herrn oder sonst jemand seine Mahlzeit einnehmen sehen. Deswegen hatte ich dir nichts erzählt davon, wie man sich hierzulande ernährt; da du es aber nicht weisst, so erfahre, dass man hier nur vom Speisendampf lebt. Die Kunst des Koches besteht darin, in grosse, eigens dafür geformte Gefässe den Dunst, den das Fleisch ausströmt, einzufangen, und wenn man diesen nun aufgespeichert hat von verschiedenen Sorten, von verschiedenem Geschmack, je nach dem Appetit derer, die man speist, dann öffnet man das Gefäss, in welchem dieser Geruch eingesammelt ist, nach diesem entkorkt man ein anderes, darnach ein drittes, bis die Gesellschaft ganz gesättigt ist.

Wenn du nicht selber schon auf diese Weise gelebt hast, wirst du niemals glauben, dass die Nase, ohne Zähne und ohne Kehle, bei der Ernährung des Menschen den Dienst des Mundes versehen könnte. Aber du wirst es durch die Erfahrung selber sehen.« Er hatte kaum ausgeredet, als ich empfand, wie nacheinander so viele angenehme und so nahrhafte Dämpfe in den Saal einströmten, dass ich mich in weniger als einer halben Viertelstunde vollständig befriedigt fühlte. Als wir aufgestanden waren, sagte er: »Du musst dich darüber nun gar nicht so sehr wundern, denn du hast doch jedenfalls nicht so lange leben können, ohne zu beobachten, wie bei euch die Köche, Pastetenbäcker und Garköche, die weniger essen als die Leute einer anderen Berufsklasse, trotzdem viel dicker sind; wo sollte ihr Embonpoint herkommen, wenn nicht von den Fleischdämpfen, in die sie fortwährend eingehüllt sind und die in ihren Körper eindringen und ihn ernähren? Die Menschen hier besitzen ja auch eine viel weniger gestörte und kraftvollere Gesundheit, weil die Nahrung fast keine Exkremente erzeugt; die ja die Ursache sozusagen aller Krankheiten sind. Du hast dich vielleicht gewundert, dass man dich vor dem Essen ausgezogen hat, denn das ist bei euch zulande nicht gebräuchlich. Aber hier ist es Sitte, und zwar deshalb, damit der Körper für die Dämpfe besser zugänglich ist.«

»Was Sie da sagen«, antwortete ich, »hat viel für sich, und ich habe es ja einigermassen eben an mir selbst ausprobiert. Aber ich muss leider gestehen, ich kann mich nicht so schnell der Roheit entwöhnen, und daher wäre ich sehr froh, wenn ich etwas Greifbares zwischen die Zähne kriegen könnte.« Er versprach mir das, aber erst für den folgenden Tag, denn, meinte er, essen so schnell nach einer Mahlzeit würde mir eine Verdauungsstörung verursachen. Wir unterhielten uns noch einige Zeit lang und gingen dann in unsere Zimmer hinauf, uns schlafen zu legen.


Buchllink Cyrano de Bergerac
Franz. L'autre monde ou les États et Empires de la Lune, Éd. critique par Madeleine Alcover, Paris, Librairie Honoré Champion, 1977
oder Deutsch: Die andere Welt oder Reise zu den Staaten und Reichen des Mondes (1657-1662), in: Die Reise zu den Mondstaaten und Sonnenreichen, Heyne Verlag, München, 1986, S. 57 f.