Ovid
Der Hunger (Ceres bestraft den Frevler Erysichthon) Metamorphosen, Liber VIII, V. 797- 833:

Auf dem Haupt eines wilden
Berges - Caucasus wird er genannt - gab frei sie der Schlangen
Rücken und sah nun dort auf steinigem Feld den gesuchten
Hunger mit Nägeln und Zähnen die dürftigen Kräuter sich rupfen.
Struppig sein Haar und hohl seine Augen, Blässe im Antlitz,
fleischlos die Lippen und grau, voll rauhen Schorfes der Rachen,
hart seine Haut, man konnte durch sie die Geweide erkennen.
Dürr über hohlen Lenden heraus ihm starrten die Rippen,
statt des Leibes - Raum für den Leib. Die Brust schien zu hangen,
so, als würde sie nur von den Wirbeln des Rückens gehalten.
Grösser macht die Gelenke die Magerkeit, quellend der Kniee
Scheiben, unmässig treten hervor die kantigen Knöchel.
Als sie von ferne ihn sah - sie wagte nicht näher zu treten -
rief sie der Göttin Befehle ihm zu. Und so kurz sie verweilt, so
weit sie entfernt von ihm stand, und war sie auch kaum erst gekommen,
glaubte sie dennoch den Hunger zu spüren. Sie liess ihre Schlangen
wenden und lenkte sie hoch ihre Bahn nach Thessalien wieder.
Was ihm Ceres befohlen, vollführte der Hunger, obgleich er
stets ihrem Wirken fremd. Durch die Luft von den Winden getragen,
naht er sich schon dem befohlenen Haus. In des Heiligtumschänders
Kammer tritt er sogleich; den in tiefem Schlummer Gelösten -
Nachtzeit war es - umschlingt mit beiden Armen er enge,
haucht dem Manne sich ein, weht Brust ihm, Rachen und Antlitz
an und flösst seine Leere ihm tief in das hohle Geäder.
Dann, da sein Auftrag erfüllt, verlässt er den fruchtbaren Erdkreis,
kehrt in das Haus des Mangels zurück auf die heimischen Fluren.
Friedlicher Schlummer umfächelt bisher Erysichthon mit sanftem
Fittich. Aber schon im Traum verlangt er nach Nahrung,
regt seine leeren Kiefer, ermüdet den Zahn an den Zähnen,
quält mit nichtiger Speise umsonst die betrogene Kehle,
schlingt an der Mahlzeit statt die flüchtigen Lüfte hinunter.
Aber als dann der Schlummer verscheucht, da raste die Essgier,
herrschte im gierigen Schlund und den unermessnen Geweiden.
Ohne Verzug verlangt er, was Meer, was Erde, was Luftreich
liefern und klagt an gedecktem Tisch, ihn quäle der Hunger.
Speisend fragt er nach Speise, und was einer Stadt, einem ganzen
Volk hätte können genügen, es reicht nicht aus für den Einen.


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Der Hunger
in: Metamorphosen, Reclam, Ditzingen (1997)